»Ich war so auf der Suche nach Form, Inhalt, nach einer Weltanschauung.«
Am 6. April verstarb mit 85 Jahren der Buchgestalter Lothar Reher. Ich lernte ihn 2014 während meines letzten Studienjahres kennen, als ich im Rahmen meiner Abschlussarbeit ein Interview mit ihm führte. Seine aufgeschlossene Art und seine Berliner Schnauze machten großen Eindruck auf mich. Als ich nun gefragt wurde, ob ich seinen Nachruf schreiben möchte, war ich unsicher. So etwas habe ich bisher noch nie gemacht. Aber dann erinnerte ich mich an eine Bemerkung von ihm, die ich mir auch heute noch wie ein Mantra in den passenden Situationen ins Gedächnis rufe: »Wenn mal jemand fragt, ob Sie etwas können und das ist eine tolle Sache, dann ist es egal, ob Sie das schon einmal gemacht haben. Das spielt gar keine Rolle. Sie sagen erst einmal ja.«
Lothar Reher wurde 1932 in Marienburg in Westpreußen (heutiges Polen) geboren und zog mit seiner Familie noch vor dem Krieg nach Berlin. Bereits mit vierzehn Jahren musste er die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. So begann er mehr durch Zufall in einer Druckerei eine Ausbildung zum Akzidenzsetzer und schloss dort seinen Meister ab, obwohl er in den chaotischen Nachkriegsjahren »öfter auf dem Schwarzmarkt Kartoffeln holte« als in der Druckerei anwesend war.
Reher war ein Selfmademan: Sein umfangreiches gestalterisches Wissen eignete er sich autodidaktisch an. Fragte man ihn nach seinem Werdegang, klang alles ganz einfach und zufällig. Doch hörte man genau hin, konnte man vor dem Hintergrund der Aufbruchsstimmung der 50er Jahre den Ehrgeiz des jungen Mannes aus einfachen Verhältnissen erahnen: »Ich war so auf der Suche nach Form, Inhalt, nach einer Weltanschauung.«
Gefragt nach seinen gestalterischen Vorbildern beschreibt Reher seinen damaligen Arbeitsweg entlang der Prenzlauer Allee. Dort entdeckte er das Plakat, welches Klaus Wittkugel für die Ausstellung »Qualität« entworfen hatte. Völlig entzückt von der formalen Kraft und der ungewöhnlich Schriftwahl wusste der junge Setzerlehrling, was er einmal werden wollte, ohne dafür einen eigenen Begriff zu haben: Gebrauchsgrafiker. »Als ich dann später in den Verlag kam« so schilderte Reher seinen Einstieg im Jahr 1951 bei dem auf internationale Literatur spezialisierten Verlag Volk und Welt, »ging die Tür auf und einer sagte, Klaus, wir haben hier einen neuen Mitarbeiter. Dann hat er mich vorgestellt und gesagt, dit is Herr Wittkugel. Da habe ich gedacht, ich bin hier absolut richtig!«
Und das war er! Reher arbeitete pausenlos und erklomm Schritt für Schritt die Karriereleiter: Vom Hilfshersteller zum künstlerischen Berater zum künstlerischen Leiter, eine Stelle, die er von 1964 bis 1979 inne hatte.
Was Piatti für den Deutschen Taschenbuch Verlag und Fleckhaus für Suhrkamp waren, wurde er für Volk und Welt. Als Künstlerischer Leiter prägte Reher das visuelle Erscheinungsbild des Verlags. Vor allem die Taschenbuchreihe Spektrum, die ab 1968 erschien, machte ihn bekannt: Bis auf eine Ausnahme gestaltete er alle Cover selbst – insgesamt über 270 Bücher. Dabei wollte er die Reihe ursprünglich nicht einmal selbst entwerfen. Er gab den Auftrag an drei externe Grafiker, war aber mit keinem ihrer Vorschläge zufrieden.
»Es geht darum, dass der Umschlag sowohl zur Reihe als auch zum Buch passt und dass jedes Buch in der Lage ist, der Reihe etwas Neues hinzuzufügen und sie damit fortzuschreiben.« Eine Buchreihe erfordert eine wiedererkennbare Gestaltung – heute würde man es Corporate Design nennen. Reher wählte einen schwarzen Grund, darauf weiß gesetzte Garamond, ein Schnitt, ein Grad. Doch innerhalb dieserminimalistischen Konstanten gelang es ihm, die Einzigartigkeit eines jeden Titels erfahrbar zu machen. Jedes Cover erhielt eine eigene Collage oder Fotomontage, welche er ebenfalls selbst entwarf und die mal satirisch mal sinnlich, aber immer expressiv waren. Der schwarze Einband – auch wenn durch den mangelhaften Druck in der DDR mitunter eher grau – wurde zum Namensgeber der »Schwarzen Reihe« und ihr Abwechslungsreichtum macht sie bis heute zum Sammlerstück.
Über den Lauf der Jahre sammelte auch Reher einen ganzen Fundus an Requisiten an, die er für seine Spektrum-Cover nutzte. Sie stammten aus Antiquitätenläden und Wohnungsauflösungen. Nachdem er sein Atelier aufgab, landeten sie in seiner Pankower Wohnung und wurden Teil seines Mobiliars. Während unseres Interviews schaute der Totenschädel – Rehers Lieblings-Motiv – auf uns herab.
Auf die Spektrum-Reihe folgten zahlreiche weitere Projekte bei Volk und Welt: Lyrik international (die dann zur »Weißen Reihe« wurde), ex-libris und auch bei anderen Verlagen war Reher als Gestalter gefragt. Für die Gustav Kiepenheuer Bücherei entwarf er Schutzumschläge und für das Leipziger Verlagshaus Reclam überarbeitete er in den 60er Jahren das Erscheinungsbild der Universal Bibliothek.
Reher arbeitete viel und am liebsten gleichzeitig an verschiedenen Projekten. »Wenn ich einmal eine einzige Idee haben soll, breche ich ein, das wird nichts. Wenn ich aber schon hundert Ideen habe, bin ich total souverän und kann im Nu hundert weitere auf den Tisch legen.« War die Idee einmal da, brauchte er für die Umsetzung nur knapp eine Woche.
Mehr als einmal legte er sich mit dem Verlag an, um seine Ideen umsetzen zu können. Reher nannte sich selbst einen Spieler. Ich sah in ihm vielmehr einen souveränen Gestalter, der von seiner Arbeit überzeugt war und sich argumentativ durchzusetzen wusste. Seine mitunter provokanten Spektrum- Cover zeugen davon.
Reher war ein »Macher« und kein Theoretiker seines Tuns. Dennoch beweisen vor allem seine frühen Arbeiten seine Stärke im konzeptuellen Gestalten. Seine Bücher zeugen nicht von einem handwerklich peniblen und detailverliebten Umgang mit Schrift, wie man es bei Axel Bertram oder Gert Wunderlich findet. Im Mittelpunkt stand die Idee. Das Resultat sind frische, zeitlose Bücher, die auch heute noch innovativ sind. Wie das Kinderbuch »Ich will euch was erzählen« für welches Reher nicht die führenden Illustratoren der DDR engagierte, obwohl er durchaus über die Kontakte verfügte, sondern Kinder mit dem Zeichnen beauftragte.
Lothar Reher hinterließ keinen eigenen Werk-Katalog. Will man in den Genuss seiner Arbeiten kommen, bleibt nur der Weg ins Antiquariat. Das ist bedauerlich, denn sein unnachahmlicher Stil ist mitunter frischer als der zeitgenössischer Buchgestalter. Ich habe nur drei Stunden mit Lothar Reher verbracht. Doch mit seinen Worten möchte ich sagen: »Das war mindestens ein Semester wert oder sogar zwei.«